Die Lautlose Suche

schalli 

  Lyrik 

Vom Suchen und Finden (Meeresaugen)

Entgegen aller Gewohnheiten und der Regelmäßigkeit, die sich im Urlaub einspielt, war ich schon bei Sonnenaufgang aufgewacht. Und weil ich den Weg zurück in meine Träume nicht mehr finden konnte, stand ich auf, um zum Strand zu gehen. Die Sonne, die den Horizont schon hinter sich gelassen hatte, verwandelte das Meer in ein glitzerndes und blendendes waberndes Tuch. Fast schien es, als habe sich das Wasser noch in sein Nachtquartier verkrochen, so weit hatte die Ebbe den Strand entblößt und mit ihm Muscheln und Krebse und das Treibgut der vergangenen Nacht.

Trotz oder vielleicht gerade wegen der frühen Stunde waren schon einige Menschen am Strand unterwegs. Spaziergänger und Strandläufer und auch ein paar, die diese Gelegenheit für ein vor-frühstückliches Bad nutzten. Hätte nie gedacht, dass es um diese Zeit schon so viele Leute ans Meer zieht.

Und obwohl der Strand damit alles andere als menschenleer war, war nichts zu hören, außer einem sanften Rauschen. Alle Spaziergänger hielten sich scheinbar an einen geheimen Codex, der es verbat, um diese Stunde zu sprechen oder zu lachen und Lärm zu machen. Nur die Wellen verschafften sich Gehör, mit jedem neuen Anlauf das nächtlich freigegebene Terrain wieder Stück für Stück zurück erobernd. Als wollten sie sagen: Das ist unser Land und wir haben es nur für kurze Zeit entblößt, jetzt wollen wir es wieder haben.

Was für ein Gegensatz zu der Art und Weise, in der sich dieser Ort einige Stunden später darstellen wird. Bevölkert mit Männern, Frauen, Kindern, Alten und Jungen verschiedenster Nationalität ergab das eine Geräuschkulisse aus Stimmen, Gelächter und Geschrei, so dass sich die einrollenden Wellen anstrengen mussten, um nicht ungehört im Sande zu verlaufen.

Doch zu früher Stunde war das anders: Die Strandläufer bewegten sich schweigend – fast andächtig – oder in sich versunken  über den nassen und harten Sandstreifen, den die Ebbe frei gegeben hatte. Den Blick nach unten gerichtet suchte man Muscheln oder anderes wertvolles Treibgut und vielleicht jeder für sich einen kleinen persönlichen Schatz. Ab und an kündete ein regelmäßiges, näher kommendes Schnaufen einen Jogger an, der sich von vorne oder hinten näherte, aber auch dadurch wurde die wortlose Stille nicht gestört.

Angetan von der besonderen Stimmung beschloss auch ich, auf die Suche zu gehen. Hatte ich zwar meine Begeisterung für Muscheln aller Art schon vor vielen Jahren gesättigt, und in Kinder- und Jugendjahren unzählige Exemplare verschiedenster Farben und Formen erbeutet und heimgeschleppt, so war es diese Tage eine ganz besondere Spezies, der mein Interesse wieder galt. Die Augen des Meeres auch "Santa Lucia" genannt, eine kleine braun-weiße flache Muschel in Form einer abgeflachten Schnecke. Die Oberseite, mit der spiralförmigen Kontur war bräunlich-orange gefärbt, während die flache Unterseite ganz weiß war. Vor Jahren hatte mir meine Mutter ein paar dieser kleinen Schmuckstücke gezeigt und auch geschenkt. Sie sollen Glück bringen und wer sie im Portemonaie trägt, wird keine Geldsorgen haben.

Ich weiß nicht, ob es der Glaube an die "Wunderkraft" dieser kleinen Muscheln war, oder einfach die Tatsache, dass sie schön aussahen, aber schwer zu finden waren, auf jeden Fall war ich entschlossen, diesen wunderbaren Morgen mit dem Suchen und Finden von ein paar Meeresaugen zu krönen.

Also schlenderte ich langsam und mit gesenktem Blick, vertieft und konzentriert in die unzähligen Muscheln, die sich am Meeresrand tummelten, am Ufer entlang. Schlenderte viel langsamer, als ich sonst gehe, wenn ich auf meinem täglichen Spaziergang im Sand unterwegs bin, denn das Laufen am Strand, mit den Füßen in den auslaufenden Wellen, ist eine Leidenschaft, der ich gerne fröne. Auch bei diesen Strandläufen blicke ich oft in den Sand in der Hoffnung, ein schönes Stück Muschel quasi im Vorbeigehen zu erspähen. Doch in sicherer Regelmäßigkeit sind es nur Glasscherben, die mir ins Auge fallen, die ich dann aufhebe und bis zur nächsten Mole mitnehme, wo ich sie dann in eine Spalte zwischen die Felsbrocken werfe. Ein bisschen was von missionarischem Eifer ist da an der Sache schon mit dabei, kann ich so ein paar kleine hässliche Auswirkungen der Zivilisation beseitigen und den einen oder anderen unbedarften Kinderfuß vor Verletzungen bewahren. Meine so gefundenen Schätze waren also nur aus Glas –bunt zwar – jedoch unregelmäßig und unschön und ihr Besitz war kurzlebig.

All das ging mir durch den Kopf, als ich versunken vor mich hinschlenderte und vor mir im Sand eine kleine grüne Scherbe entdeckte. In alter Gewohnheit bückte ich mich, um sie aufzuheben, verweilte aber noch in der Hocke, um die um mich liegenden Muscheln einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Doch vergeblich, kein Meeresauge weit und breit und so blieb mir nichts übrig, als mit meiner Scherbenbeute aufzustehen und weiter zu suchen. Da – wieder etwas glänzendes ... diesmal eine braune Scherbe, dann wieder eine grüne und noch zwei weiße.

Nach einer Viertelstunde hatte ich etwa zehn sandige Scherbenstücke in der Hand, ohne auch nur ein einziges kleines Meeresauge gefunden zu haben. Mir schien es, als ob sie sich geradezu vor mir versteckten, als ob sie mir durch ihr Nicht-Vorhandensein sagen wollten: "Du nicht ! Du bist nicht würdig, ein Meeresaugen-Finder zu sein ! Scherben ja, die sind gut genug für Dich, aber Meeresaugen: No!"

Wie ungerecht, dachte ich bei mir. Ich, der Gut-Mensch, der die Scherben brav sammelt und so Scharen von Strandbesuchern vor Gefahren bewahrt, ich hatte mir doch als mindesten Lohn für meine unermüdliche Strand-Entscherbungen ein oder zwei Meeresaugen verdient.

Doch es half nichts. Die Biester blieben unsichtbar.

Was für eine Tragik lag doch in der Situation, dachte ich mir. Ich hatte vor vielen Jahren in einem Buch von einer Fähigkeit gelesen, die Serendipität genannt wurde. Serendipität ist die wunderbare Kunst, Dinge zu finden, nach denen man gar nicht gesucht hatte. Eine beneidenswerte Fähigkeit. War es bei mir vielleicht genau verkehrt herum, nämlich, dass ich die Meeresaugen, die ich so verzweifelt finden wollte, eben nicht fand ? Ober bestand die Wirkung der Serendipität in meiner Version darin, dass ich Glasscherben fand, obwohl ich weiß-Gott nicht nach ihnen gesucht hatte,

Wie auch immer es hier sein mag, passt es doch zum Leben. Wir suchen und suchen nach Irgendwas und finden am Ende etwas ganz anderes. Aber das muß ja nicht schlecht sein. Wenn wir uns auf unseren vielen Suchen des täglichen Lebens nicht so sehr verkrampfen und den Blick zu sehr mit Scheuklappen auf das vermeintliche Ziel richten, dann können wir vielleicht viele Dinge finden und erfahren, die ebenfalls wertvoll und schön sind.

Alles im Leben hat seine Zeit und wenn die gekommen ist, dann werden wir auch finden können.

So wie ich auch sicher eines Tages meine Meeresaugen ....

Cavallino, August 2008

 Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist